Bellaria – So lange wir leben!
Deutschland, Österreich 2002, 95 Minuten
Regie: Douglas Wolfsperger

Drehbuch: Douglas Wolfsperger
Musik: Hans-Jürgen Buchner, Haindling
Director of Photography: Helmut Wimmer
Montage: Götz Schuberth

Mitwirkende: Karl Schönböck, Baroness Lips von Lipstrill, Heinrich Mosch, Ernst Weizmann, Vera Benda, Rosie Tomek

„Die Gegenwart ist eh grausig“

Was wird er wohl gedacht haben, der 91jährige Karl Schönböck, als er im „Bellaria“, einer einmaligen Institution, einem Kino, das vor allem deutsche Filme aus den 30er und 40er Jahren zeigt, zur Autogrammstunde gebeten wurde? Belagert von Filmliebhabern, die älter sind als die Filme, die sie lieben, die sich zum Teil das Essen vom Mund absparen, um mehrmals die Woche ihren Träumen und Stars wie Marika Rökk und Johannes Heesters, Willi Forst und Paul Hörbiger, Heinz Rühmann und Zarah Leander nachzuhängen, gibt Schönböck Autogramme, bequasselt von den Fans, und an einer Stelle sagt er: „Wenn I schreib, kann I net hinschau’n.“ Als ihm zwei Schwestern aus München auf die Pelle rücken, in den Mantel helfen und am Schluss hinterherlaufen, als er zum Taxi geht, sieht man in seinen Augen, dass er müde geworden ist und mürbe angesichts der fanatischen Verfolger. (Schönböck starb wenige Monate später.)

„Bellaria“ – das ist geballte Vergangenheit und Gegenwart zugleich. Douglas Wolfsperger filmte die Fans von einst und jetzt, was in diesem Fall dasselbe bedeutet, in dem Kino hinter dem Wiener Volkstheater jedoch nicht mit dem arroganten Blick auf die alten Leut’; seine dichte Dokumentation gibt sie nicht der Lächerlichkeit preis, auch wenn man über einige nur lachen kann – oder auch weinen. In dem Haus, Baujahr 1911, werden Filme wie „Rosen in Tirol“, „Es war eine rauschende Ballnacht“ usw. usf. seit den 50er Jahren gezeigt. Das Stammpublikum besucht das „Bellaria“ fast ebenso lange.

Eine schillernde Stammkundschaft ist das. Der Herr Weizmann zum Beispiel, ein ehemaliger Travestiekünstler, der mit seinem Zopf so aussieht, als wolle er nicht alt werden, dem seine Mutter ein und alles war, der Zarah Leander über ein Jahrzehnt lang mehrmals getroffen hat. Oder Vera Benda, deren Mann seit einigen Jahren tot ist und die seitdem glücklicher ist, weil er ihr keine Freude war, die sich im Supermarkt eine Monatsration Konserven kauft, genau Buch führt über ihre Ausgaben, um das Geld zu sparen und jeden Tag ins Kino zu gehen: 55 Schilling die Vorstellung. Eine andere ältere Dame, der das Glück und die Liebe im Gesicht geschrieben stehen, der – im Gegensatz zu ihrer Altersgenossin – ihr Mann fehlt, der vor neun Jahren gestorben ist, und die sich neu verliebt – in einen 91jährigen Mann, mit dem sie tanzen geht. Oder die exzentrische ehemalige Tänzerin und Sängerin, die Baroness Lips von Lipstrill, verkleidet im wahrsten Sinn des Wortes als Diva mit Boa, riesigem Hut, Sonnenbrille und geschminkt bis zum geht nicht mehr. Der Filmvorführer – dieselbe Generation – ist schon lange aufgrund einer Krankheit impotent, redet aber ständig über Sex und erklärt das unterschiedliche Sexualverhalten von Männern und Frauen durch den Sonneneinfluss: Da die Frau in der Höhle zu wenig Sonne abbekommen habe ... Aber diese „Evolutionstheorie“ muss man sich selbst anhören.

„Die Gegenwart ist eh grausig“, verkündet eine andere Frau, die Uhren sammelt und, wie sie sagt, in den Tag hineinlebt, ohne irgendwelche Pläne für die Zukunft, die sie sowieso nicht mehr habe, abseits der Gegenwart, in die sie nicht hineingehöre, und vergraben in die Vergangenheit und die Erinnerungen, die sie am leben halten. Das trifft auf alle zu, die sich hier regelmäßig treffen, das vereint die muntere Kundschaft des „Bellaria“, auch die beiden Schwestern Tenbuss aus München, die Marika Rökk in Baden an deren Haus auflauern, um ein Autogramm zu bekommen. Doch Frau Rökk ist unpässlich, und so bleibt den beiden nur ein von der Haushälterin besorgtes Autogramm und ein Foto vom Hündchen der Rökk. Zusammen sterben wollen sie, sagen die beiden Schwestern, das solle der liebe Gott doch bitte so einrichten. Auch der Herr Mosch hat einen Wunsch an den Tod: „Ein mittelmäßiges Begräbnis für ein mittelmäßiges Leben.“ Das meint er sogar ernst.

Gemeinsam ist allen, dass sie mit der Gegenwart nicht viel anfangen können. Das moderne Kino, die heutigen Filme lehnen sie ab, ja teilweise steht ihnen Hass und Wut im Gesicht, wenn sie nur dran denken. „Heute gibt es nur noch Tsching-Bumm und lauter Nackerte – das interessiert mich nicht“, sagt die Baroness und gibt damit das Statement für die anderen gleich mit ab. Und sie ist froh darüber, dass einer ihrer Filmfreunde die vielen Ausländer dafür verantwortlich macht, dass (nicht nur) das Kino inzwischen verdorben sei. Endlich mal ein Mann, der die Wahrheit sagt! Aber die Rökk, ist das nicht auch eine Ausländerin? Nein, denn Österreich, das war ja einmal Österreich-Ungarn, und die Ungarn sind daher keine Ausländer.

Ein Gruselkabinett? Eine groteske, morbide Gesellschaft ewig Gestriger? Eine fanatische, teilweise penetrante Fan-Gemeinde, die in devoter Verneigung vor den Stars von damals die Vergangenheit glorifiziert? Alte Leut’, die in ihren Erinnerungen leben und mit der Gegenwart nicht mehr zurecht kommen? Sicherlich von allem etwas. Was sich in Wolfspergers verhaltener, zurückhaltender und doch eindringlicher und dichter Dokumentation vor allem zeigt, ist die Macht der Erinnerung. Sie alle leben mit einem Erfahrungs- und Erinnerungshorizont, der festgefügt, uneinnehmbar, unumstößlich das wiedergibt, wovon sie gelebt haben, wie sie gelebt haben und woran sie sich festhalten. Das ist teilweise humorvoll, aber auch erschreckend.

Von ihrer Vergangenheit berichten sie viel, aber nichts über die Zeitumstände, in denen die Filme gedreht wurden, die sie so lieben. Nur der Kinobetreiber selbst berichtet über öffentliche Kritik, weil er eben auch Filme gezeigt habe und zeige, die als sogenannte „Durchhaltefilme“ im zweiten Weltkrieg inszeniert wurden. Der Krieg aber, der Holocaust, die Vernichtung, Vertreibung, das Elend – das spiegelt sich in den Worten der Stammkundschaft des „Bellaria“ nicht wieder. Nur ab und an bekommt man eine Ahnung davon, wenn der Haider gelobt wird, nostalgisch die Donaumonarchie erinnert wird oder „die Männer von damals“ als die „wirklichen Männer“ hingestellt werden: der Heesters, der Forst, der Rühmann ... Das waren noch Männer, die gerade standen in einer Zeit, als die militärische Haltung noch etwas galt.

„Bellaria“ ist ein Dokument des Grauens. Aber wie so oft im Leben stehen Grauen und Humor, Weinen und Lachen dicht beieinander. Man kann sie belächeln, die alten Herrschaften, man kann sich natürlich auch über sie lustig machen. Wolfsperger fördert dies in keiner Weise. Er zeigt sie und sie zeigen sich. Das genügt. Die Fixiertheit der Erinnerungshorizonte ist das eigentlich Erschreckende an diesem Film. Die festgefahrenen Weltbilder, so unterschiedlich sie in einzelnen Bereichen von Person zu Person auch sein mögen, stehen wie Felsen in der Brandung. Sie sind nicht gefährlich, sie bedrohen niemanden, aber sie zeugen von einer Vergangenheit des Schreckens, „individuell aufbereitet“.

Nur die Dame, der ihr Arzt Tanzen und Küssen „verordnet“ hat, zeugt auch von einer anderen Vergangenheit. Die Liebe steht ihr im Gesicht geschrieben.