Der Seewolf
Deutschland, Rumänien, Frankreich, Österreich 1971, 362 Minuten (4 Folgen)
Regie: Alecu Croitoru, Sergiu Nicolaescu, Wolfgang Staudte

Drehbuch: Walter Ulbrich, nach dem Roman von Jack London sowie dessen Erzählungen „Joe unter den Piraten”, „Der Sohn der Sonne”, „Abenteurer des Schienenstrangs”
Musik: Hans Posegga
Director of Photography: André Zarra
Montage: Hermann Haller
Produktionsdesign: Aureliu Ionescu

Darsteller: Edward Meeks (Humphrey van Weyden), Raimund Harmstorf (Wolf Larsen), Emmerich Schäffer (Thomas Mugridge), Peter Kock (George Leach), Sandu Popa (Johnson), Boris Ciornei (Louis), Omar Islau (Oofty-Oofty), Colea Rautu (Pete), Beatrice Cardon (Maud Brewster), Franz Seidenschwan (Joe, der junge Humphrey), Dieter Schidor (Frisco Kid, der junge Larsen)

Konfrontation in der Südsee

Wer kennt sie nicht – die Begeisterung für das Abenteuer, die Sehnsucht nach der Ferne, ja, das Fernweh, die Lust auf Unbekanntes, Unberührtes, auf das Unwägbare, das Unerwartete? Wahrscheinlich ist dies etwas, was unausrottbar, unvergänglich ist. Und es waren die berühmten ZDF-Vierteiler der 60er und 70er Jahre, die es mir in diesem Sinne angetan hatten. Vielleicht trug auch die winterliche Vorabendzeit dazu bei, sich nach Sonne und Abenteuer zu sehnen. Immer vor Weihnachten liefen „Robinson Crusoe”, „Der Seewolf”, „Die Lederstrumpf-Erzählungen”, „Die Schatzinsel”, „Michael Strogoff – Der Kurier des Zaren” oder „Lockruf des Goldes”, aber auch „Don Quijote” mit dem unvergessenen „Burg”-Schauspieler Josef Meinrad in vier Teilen im ZDF – und die Zeit zwischen den Teilen war genauso unerträglich wie das Ende des letzten Teils. Denn am liebsten hätte man gleich den nächsten Vierteiler verschlungen.

All diese ZDF-Adventsvierteiler sind inzwischen in schmucken Kassetten auf DVD erschienen. Vor allem aber wurden die Miniserien digital überarbeitet, was Bild wie Ton gut getan hat. Concorde Home-Entertainment stattete die Doppel-DVD-Kassetten zudem mit Booklets aus, die neben Inhaltsangaben auch Interviews und kurze Features enthalten, zusammengetragen von den Kennern der Vierteiler Oliver Kellner und Ulf Marek, die unter dem Titel „Seewolf & Co – die Abenteuer-Vierteiler im ZDF” eigens ein reich bebildertes Buch mit vielen Hintergrundinformationen zum Thema veröffentlicht haben (1).

„Der Seewolf” nach dem Roman von Jack London gehört dabei sicherlich zu den Höhepunkten der Vierteiler. Und es war nicht zuletzt dem Drehbuchautor und Produzenten Walter Ulbrich (1910-1991) zu verdanken, dass dieser und die anderen Miniserien produziert wurden und so großartigen Erfolg hatten. Ulbrich, von dem ZDF-Redakteur Nathan, der die Serien zu verantworten hatte, als Perfektionist sprach, hatte, wie Nathan schreibt, seine Kindheit in die Tasche gepackt und nie wieder davon los gelassen. Er lebte sie aus in den insgesamt zehn Vierteilern (2) – und trotzdem wahrte er eine unübersehbare Distanz zu seinen eigenen Filmen und sicherlich auch zu den literarischen Vorlagen.

Noch etwas anderes scheint in diesem Kontext wichtig zu erwähnen. In einer Zeit der gesellschaftlichen Unruhen, der Entkolonialisierungskämpfe in der sog. „Dritten Welt”, der Bewegungen der 60er und 70er Jahre usw. setzte Ulbrich mit den Vierteilern einen gewissen Kontrapunkt der Phantasie, der Sehnsucht, des Experiments, des Abenteuers, des Unwägbaren und Unvorausschaubaren – gerade auch in den Hauptfiguren dieser Geschichten, die er da nacherzählte.

Dies wird in „Der Seewolf” besonders deutlich in den beiden Kontrahenten dieser Geschichte: dem aus der begüterten Oberschicht stammenden Humphrey van Weyden (Edward Meeks) und dem aus dem Armenviertel von San Francisco stammenden Wolf Larsen (Raimund Harmstorf), als Junge „Frisco Kid”, als Erwachsener „Der Seewolf” genannt. Während Meeks den an Recht und Gesetz glaubenden van Weyden spielt, den Prototyp der fortschrittsgläubigen Zivilisation, verkörpert Harmstorf quasi eine darwinistische Symbolfigur, für die das Recht des Stärkeren immer gilt. Ulbrich gelang mit der Adaption der verschiedenen Stoffe Londons eine in sich geschlossene Erzählung genau dieser Konfrontation.

Ulbrich und Staudte gelang es ebenso, die vier Teile der Geschichte in sich geschlossen zu erzählen, so dass von dramaturgischen Brüchen keine Rede sein kann. Jeder Teil zählt für sich – ein seltenes Glück, was im Fernsehen vielleicht des öfteren passieren kann, im Kino nur selten.


„Ein seltsames Schiff” (88:17 Min.):
Der Schriftsteller Humphrey van Weyden überlebt als einer der wenigen Passagiere und Besatzungsmitglieder den Untergang einer Dampffähre in der Bucht von San Francisco und wird von dem Kapitän des Robbenfängers „Ghost”, Wolf Larsen, aus dem Meer gefischt. Larsen, den alle wegen seiner Skrupellosigkeit „Seewolf” nennen, fehlt ein Mann an Bord – und so zwingt er van Weyden zum Kajütendienst bei dem sadistischen und zynischen Schiffskoch Mugridge. Van Weyden, den Demütigungen von Mugridge, vor allem aber Larsens selbst ausgesetzt, entdeckt, dass Larsen in der Kapitänskajüte eine Menge Bücher aufbewahrt. Und nicht nur das: Larsen hat all diese Bücher gelesen. Als van Weyden ein altes, ihm bekanntes Lexikon findet, dämmert ihm, dass es sich bei Larsen um einen jener Jungen aus den Slums von San Francisco handelt, die er selbst dort kennen gelernt hatte: Frisco Kid ...

„Kurs auf Uma” (96:59 Min.):
Larsen kennt nur ein Ziel: die Bering-See, wo er Robben fangen will. Doch der Weg dahin ist noch weit. So steuert man eine kleine Insel namens Uma an, um dort die Wasserfässer zu füllen. Van Weyden, weiterhin machtlos gegenüber Larsen, wird eines Tages von diesem zum Steuermann „ernannt”, nachdem der bisherige Steuermann spurlos verschwunden zu sein scheint. Einerseits hat van Weyden Zweifel, andererseits macht es ihm zunehmend Spaß, diese Arbeit zu erledigen. Als man auf Uma ankommt, fliehen drei Männer mit einem Rettungsboot, um Larsen zu entkommen und sich auf der Insel zu verstecken. Auch van Weyden schließt sich ihnen an – doch die Flucht misslingt. Larsen scheint niemand entkommen zu können ...

„Das Land der kleinen Zweige” (88:11 Min.):
Die „Ghost” hat die Bering-See erreicht und unterwegs fünf Schiffbrüchige, darunter eine Frau, Maud Brewster, aufgenommen. Sie ist die einzige, die nicht versteht, wie man sich von Larsen derartig behandeln lassen kann, ohne gegen ihn Widerstand zu leisten. Larsen selbst muss feststellen, dass er zu spät gekommen ist. Andere Schiffe haben die See bereits nach Robben abgegrast. Für ihn heißt dies nur eines: durch eine List lockt er einen Teil der Besatzung eines anderen Robbenfängers an Bord der „Ghost” und kapert dann die Robbenboote. Van Weyden hingegen sieht seine Chance, Larsen zu entfliehen, als dieser bei einem Gelage zusammenbricht. Zusammen mit Maude flieht er in einem Boot. Nach etlichen Strapazen und nachdem Wasser und Essen aufgebraucht sind, stranden beide an der Küste einer Insel. Doch ein Sturm lässt das Boot zerschellen – und als van Weyden erwacht, ist Maude verschwunden. Ein Walfängerboot nimmt den völlig erschöpften van Weyden auf ...

„Die Suche nach einer verlorenen Insel” (89:25 Min.):
Sechs Jahre später ist van Weyden selbst Kapitän eines eigenen Schiffes. In Goboto trifft er auf einen Seemann, der eine schreckliche Trophäe besitzt: den Schrumpfkopf eines Mannes, der zweifellos niemand anderem gehörte als: Mugridge. Die Geschichte des Seemanns über die Herkunft des Schrumpfkopfs, so glaubt jedenfalls van Weyden, führt ihn auf die Spur eines Mannes, den er sechs Jahre lang nicht gesehen hat: Larsen. So sticht er in See, um die geheimnisvolle Insel zu finden, auf der ein gewisser Hall residieren soll, den er für Larsen hält und der dort mit Perlenfischen und anderem reich geworden sein soll. Auf keiner Karte ist die Insel verzeichnet und viele glauben, sie sei nur eine Erfindung. Doch eines Tages landet van Weyden mit seinem Schiff genau auf dieser Insel ...


Das, was Ulbrich und Staudte im besonderen auszeichnet, ist ihre Fähigkeit, aus unterschiedlichen Romanen und Erzählungen Jack Londons eine homogene Geschichte zu inszenieren, die in sich (auch psychologisch) stimmig ist. So gehen die Rückblenden in die Jugend der beiden Hauptfiguren nicht auf „Der Seewolf” zurück, sondern auf die Erzählungen „Joe unter den Piraten” und „Abenteurer des Schienenstrangs”. Die Figuren Joe und Frisco Kid werden so bei Ulbrich van Weyden und Larsen in ihren jugendlichen Jahren. Wer die Erzählungen Londons nicht kennt, wird dies im Film nicht bemerken. Wer sie kennt, wird positiv überrascht sein. Die Geschichten sind so gut miteinander verwoben, dass die Homogenität der Figuren und ihre Verbindung miteinander erhalten bleibt. Ein weiteres kommt hinzu: Alle Vierteiler werden von einem „Erzähler” begleitet. Im „Seewolf” erzählt van Weyden im Rückblick die Geschichte seiner Abenteuer und Begegnungen mit Larsen. Bei anderen Filmen mag dies lästig, kritisch, abzulehnen sein. Bei den meisten Vierteilen des ZDF gehört dies nicht nur „dazu”; es verschafft den Geschichten eine eigene Qualität, ein zusätzliches Spannungs- und vor allem auch ein verbindendes und die Gedanken, hier van Weydens, offenbarendes und die Geschichte vorwärtstreibendes Moment.

Der Erfolg gerade dieses Vierteilers, der später sogar in einer allerdings katastrophal gekürzten Fassung in die Kinos kam, beruht des weiteren auf der Wahl der beiden Hauptdarsteller. Edward Meeks war bis dahin nur einem kleineren Publikum bekannt durch die Serie „Die Globetrotter”. Raimund Harmstorf war kaum jemandem bekannt. Sowohl rein äußerlich, aber vor allem durch ihre Darstellung selbst waren sie hervorragend für die konträren Rollen geeignet.

Harmstorf spielt den Seewolf, wie er beschrieben war: muskulös, bärtig, rauh, skrupellos, berechnend, schlau. Das Recht des Stärkeren scheint aus allem, was er denkt, wie er handelt, und auch aus dem, was er nicht tut, heraus. Meeks hingegen verkörpert den intelligenten, zivilisierten Schriftsteller, der Ungerechtigkeit verabscheut und doch zugleich weiß, dass er kaum Chancen in der klaustrophobischen Atmosphäre der Ghost gegen Larsen hat. Beide verbindet also eigentlich nichts – und doch merkt man ihnen an, dass sie sich auf unterschiedliche Weise zu dem jeweils anderen hingezogen fühlen. Für den Zuschauer bleibt es ein Geheimnis – und vielleicht für die beiden Kontrahenten ebenfalls, was diese Hingezogenheit begründet. Vielleicht ist es das jedem selbst Unbekannte, Fremde des jeweils anderen – und im letzten Teil wird dies bei van Weyden offenbar. Er sucht Larsen aufgrund einer vagen Geschichte eines betrunkenen Seemanns. Er sucht ihn, weil er unbedingt wissen will, was aus dem Seewolf geworden ist. Die Faszination van Weydens für Larsen wird offensichtlich – ebenso wie seine Ablehnung von dessen Verhaltensweisen und Lebensweise.

Ulbrich und Staudte lassen in gewisser Weise – und folgen da ganz Jack London – beide Protagonisten und beide Lebensweisen nebeneinander bestehen. Auf dem Land gilt das Gesetz der Zivilisation, auf der See das Gesetz Larsens. Das hat nichts mit Rechtfertigung zu tun, sondern mit Geschichtenerzählen, Geschichten, in denen deutlich wird, dass beides, das darwinistische „Recht des Stärkeren” und zivilisatorische Regeln, auch in der Realität nebeneinander fortbestehen – so sehr man die Existenz des ersteren auch bedauern mag.

Auch heute – das muss ich und kann ich auch gern zugestehen – faszinieren mich solche Geschichten nach wie vor und uneingeschränkt.

© Bilder: Concorde Home Entertainment.

(1) Kellner, Marek: Seewolf & Co. – Die Abenteuer-Vierteiler im ZDF, Berlin, 300 Seiten.
(2) Die ZDF-Vierteiler auf einen Blick:
„Robinson Crusoe” (1964), „Don Quijote von der Mancha” (1965), Die Schatzinsel” (1966), Tom Sawyers und Huckleberry Finns Abenteuer” (1968), „Die Lederstrumpf-Erzählungen” (1969), „Der Seewolf” (1971), „Cagliostro” (1973), „Zwei Jahre Ferien” (), „Lockruf des Goldes” (1975), „Michael Strogoff – Kurier des Zaren” (1976), „Die Abenteuer des David Balfour” (1978), „Mathias Sandorf” (1979), „Tödliches Geheimnis” (1980), „Wettlauf nach Bombay” (1981), „Der schwarze Bumerang” (1981), „Der Mann von Suez” (1983).