Nosferatu: Phantom der Nacht (1979)
Woyzeck (1979)





Nosferatu: Phantom der Nacht
(USA: Nosferatu the Vampyre)
Deutschland 1979, 107 Minuten
Regie: Werner Herzog

Drehbuch: Werner Herzog, nach dem Roman „Dracula” von Bram Stoker
Musik: Popol Vuh
Director of Photography: Jörg Schmidt-Reitwein
Montage: Beate Mainka-Jellinghaus
Produktionsdesign: Henning von Gierke

Darsteller: Klaus Kinski (Graf Dracula), Isabelle Adjani (Lucy Harker), Bruno Ganz (Jonathan Harker), Roland Topor (Renfield), Walter Ladengast (Dr. van Helsing), Dan van Husen (Gefängnisleiter), Jan Groth (Hafenmeister), Carsten Bodinus (Schrader), Martje Grohmann (Mina)

Das Leiden an sich selbst

„Das, was ich darstelle, ist auch
in mir. Es ist ein Schrei nach Liebe,
der Ausdruck der Verzweiflung oder
der Hoffnung. Insofern bin ich
selbst Nosferatu.”
(Klaus Kinski)

F. W. Murnaus „Nosferatu – eine Symphonie des Grauens” aus dem Jahre 1922 gehört zu den Meilensteinen des Horrorfilms. Für viele, und übrigens auch für Werner Herzog, könnte dieser Film in einem Remake nicht übertroffen werden. Und Herzogs Adaption des Stoffes ist auch eher eine Mischung aus eigener Interpretation des Stoffs und Hommage an Murnaus Klassiker, in der er keinen Anspruch darauf erhebt, dem Original „nahe zu kommen”. Herzog hätte diesen Film, wie er sagte, ohne Klaus Kinski in der Hauptrolle nicht gedreht. Kinski war für ihn der einzig in Frage kommende Graf Dracula. Und der Film beweist, dass dies die einzig richtige Wahl war.

Für „Nosferatu” konnte sich der Regisseur neben den Schauspielern vor allem auf zwei Leute stützen, die den Film zu einem visuellen Genuss werden lassen: auf Jörg Schmidt-Reitwein hinter der Kamera, dem Herzog zu Recht insbesondere bezüglich des „Spiels” von Licht und Schatten besondere Qualitäten bescheinigt, und Produktionsdesigner Henning von Gierke, der seine besonderen Fähigkeiten, beeindruckende Schauplätze zu schaffen, hier voll ausschöpfte (Inneneinrichtungen der Räume in Wismar, des Gasthauses in Transsylvanien usw.). Hinzu kommt die gerade für diesen Film äußerst wichtige, oft an geistliche Musik erinnernde Musik von Popol Vuh, einer in den 70er Jahren sehr bekannten deutschen Gruppe, die die Atmosphäre der Geschichte, den schleichenden Schrecken, das Leiden Draculas und das Leiden der Menschen exzellent betont.

Gedreht wurde u.a. in Delft (die Handlung spielt in Wismar), der östlichen Slowakei (in Rumänien bekam Herzog keine Dreherlaubnis), der Partnach-Klamm in Bayern, auf Schloss Pernstein (Schloss des Grafen Dracula) und in Telc in der Tschechischen Republik.

Jonathan Harker (Bruno Ganz) bekommt von dem Immobilienmakler Renfield (Roland Topor) den Auftrag, nach Transsylvanien zu reisen, um dem dort lebenden Graf Dracula (Klaus Kinski) ein Haus in Wismar zu verkaufen. Jonathans Frau Lucy (Isabelle Adjani) hat ein ungutes Gefühl bezüglich dieser Reise. Sie hat Alpträume und möchte am liebsten, dass ihr Mann nicht reist.

Nach vier Wochen erreicht Jonathan zu Pferd sein Ziel. In einem Gasthaus wird er vom Wirt und den dort sitzenden Zigeunern eindringlich gewarnt. Nie sei jemand aus dem Gebiet hinter dem Borgo-Pass zurückgekehrt. Doch Jonathan, dem man kein frisches Pferd leihen will, geht zu Fuß los, übersteigt den Pass und sieht das von weitem verfallen aussehende Schloss des Grafen, der ihn kurz darauf des nachts empfängt.

Dracula unterschreibt den Kaufvertrag. Er kann sich kaum unter Kontrolle halten, als Jonathan sich in den Finger schneidet (übrigens die einzige Szene, in der Blut zu sehen ist), saugt – und wenig später beißt er ihn in den Hals. Als Jonathan morgens erwacht, findet er die Gruft des Grafen, der dort in einem Sarg liegt. Am Abend sieht er, wie der Graf sich in einen Holzsarg legt, und mit anderen Särgen auf einem Wagen davon fährt. Jonathan ahnt Schreckliches. Er glaubt Lucy in Gefahr, denn Dracula hatte das Bildnis Lucys gesehen und war entzückt. Der Graf begibt sich auf ein Schiff, um nach Wismar zu fahren. Vorher hat er sämtliche Türen seines Schlosses versperrt, und Jonathan muss sich an einem aus Bettlaken geknoteten Seil aus dem Fenster hangeln. Er macht sich, verzweifelt und von Fieber geplagt, auf den Rückweg nach Wismar zu Pferd.

Der Graf kommt vor Jonathan in Wismar an. Jonathan, völlig erschöpft, erkennt seine Frau nicht wieder. Blass sitzt er in seinem Zimmer. Und kurze Zeit später sterben immer mehr Einwohner von Wismar an der Pest. Ratten bevölkern die Stadt.

Nur Lucy erkennt, dass Dracula, der ihr nachts im Zimmer aufgelauert hat, die Ursache für Tod und Verderben ist. Sie entschließt sich, den Grafen zu vernichten ...

„Ich liebe die Dunkelheit und die
Schatten, wo ich mit meinen
Gedanken allein sein kann.”
(Graf Dracula)

Herzogs Inszenierung der Dracula-Geschichte auf Basis des Romans von Bram Stoker ist in jeder Hinsicht ein visueller und erzählerischer Genuss. Kinski überzeugt in seiner Darstellung als unter Unsterblichkeit leidender, vereinsamter Dracula, der sich nach Liebe sehnt. Als er das Bild von Lucy im Medaillon Jonathans sieht, ist es um ihn geschehen. Er will sich mit Lucy vereinen. Kinski spielt diesen Dracula als verzweifelten, ja deprimierten Unsterblichen, und zugleich als Schreckensgestalt, die kein Erbarmen kennt. Verstärkt wird diese schauspielerische Leistung vor allem durch die von der japanischen Maskenbildnerin Reiko Kruk hergestellte Maske. Kinski, glatzköpfig, mit weißem Gesicht, rot umrandeten Augen, großen Ohren und überlangen, spitz zulaufenden Fingernägeln, ist zwar nicht einmal in einem Drittel des Films zu sehen. Doch seine Präsenz ist durch die Art der Inszenierung von Anfang an zu spüren – sei es durch die (übrigens einem Tierfilm entnommene) mehrfach im Flug gezeigte Fledermaus (einen „Fliegenden Hund”), sei es durch die düsteren Vorahnungen Lucys, sei es durch die Schrecksekunden, die Jonathan dem Wirt und den Zigeunern in dem Gasthaus bereitet, als er nach dem Weg zu Dracula fragt, vor allem aber durch die langen Sequenzen ab dem Zeitpunkt, als Jonathan sich zu Fuß aufmacht, um das Schloss des Grafen zu finden.

Jonathan geht durch eine Klamm, über riesige Felsbrocken, unter einem Himmel, der sich verfinstert bzw. vernebelt. Unterstützt durch die Musik Popul Vuhs und einen Ausschnitt aus Wagners „Rheingold” entsteht eine zunehmend bedrohliche Atmosphäre, bevor Dracula ins Bild rückt.

Die Landschaftsbilder, die Einrichtung des Gasthauses, aber auch der Spaziergang Jonathans mit Lucy am Strand zu Anfang des Films erinnern stark an die Romantik. Henning von Gierke legte beim Szenenbild sehr viel Wert auf Details und deren Anordnung, was dann insgesamt dem Film zu einer beeindruckenden Szenerie verhalf.

Innenwelten sind Herzogs Thema in allen seinen Spielfilmen. Im Audiokommentar der DVD distanziert sich Herzog zwar von einer theoretischen Erörterung des Films; er gehe an seine Filme nicht theoretisch heran, und zur Romantik habe er eigentlich gar keine Beziehung. Trotzdem spricht der Film in dieser Hinsicht „Bände”. In Wismar z.B. wollen die aufgeklärten Bürger, insbesondere der Arzt Dr. van Helsing (Walter Ladengast), Lucy nicht glauben, die von Nosferatu, Vampiren und Untoten erzählt; alles, was passiere, könne man, auch wenn es länger dauere, mit wissenschaftlichen Methoden erklären, meint van Helsing. Als die Pest sich weiter ausbreitet, dinieren die überlebenden Einwohner in ihrer Hilflosigkeit an großen Tischen auf den Straßen, tanzen und machen Musik, bis auch sie der Tod ereilt. Dieser Konflikt zwischen aufgeklärtem Bürgertum, das sich in seiner Welt absolut sicher fühlt, und dem Hereinbrechen von etwas Unerklärlichem, das Verzweiflung und den Tod bringt, durchzieht den ganzen Film.

Herzogs Filme werden jedoch noch von anderen Gegensätzen durchzogen. Verdrängte Ängste manifestieren sich in einer außergewöhnlichen Gestalt, die Außergewöhnliches tun will oder tut, hier Dracula. Innenwelten visualisieren sich in Schreckensgestalten, in denen das Leiden über die leidenden Personen hinaus sichtbar wird. Dabei erhalten diese Schreckensgestalten eine eigene Personalität. Dracula ist bei Herzog im Grunde die am meisten leidende Gestalt, ein Untoter, ein Nicht-Sterblicher, einer, der sich nach Liebe sehnt, sie aber nicht erreichen kann, nur in der verzweifelten Hoffnung „lebt”, in einem anderen Menschen, hier Lucy, diese Zuneigung zu finden.

Schon in den Eingangssequenzen des Films wird dieses Leiden als Grundthema des Films sichtbar. Herzog zeigte mumifizierte Leichen, mit verzweifelten, angsterfüllten Gesichtsausdrücken. Manchmal wirken sie wie Figuren, die man hier und da an einem Dom oder Münster in Stein gemeißelt sehen kann.

Doch „Nosferatu” hat noch eine andere Dimension: die von Liebe und Tod. Lucy opfert sich gegen Schluss des Films, um Dracula zu zerstören. In ihrer Liebe zu Jonathan und zu den Menschen ihrer Umgebung ist der Tod für sie die einzige Möglichkeit, um die anderen zu retten. Und in diesem tragischen Schicksal erweist sich zugleich ihr tragischer Irrtum. Denn obwohl Dracula im Tageslicht sterben muss, steht der Nachfolger schon bereit.

Ein Moment, was in Herzogs Filmen auch immer wieder auftaucht, ist die sozusagen aus Naturverbundenheit resultierende Weisheit der sog. nicht zivilisierten Völker. In „Nosferatu” sind es die Zigeuner, die um die Gefahr wissen, Jonathan aber nicht zurückhalten können. Sie stehen sowohl der äußeren Natur, als auch der menschlichen Natur und ihrer Abgründe näher, sind sich dieser Dinge bewusster als die „Zivilisierten”, die Eroberer, die Kolonialisten, die Aufgeklärten.

Was bleibt, ist zu erwähnen, dass Herzog mit Bruno Ganz und Isabelle Adjani in den beiden anderen Hauptrollen des Films, aber auch mit Roland Topor, der in seiner Rolle als Renfield nach jedem Satz auf eine eigentümliche Weise kichert und auf diese Weise dem Gehilfen Draculas das passende „Outfit” verpasst, und mit Walter Ladengast als Dr. van Helsing eine hervorragende Besetzung gelang.




Woyzeck
Deutschland 1979, 74 Minuten (DVD: 77 Minuten)
Regie: Werner Herzog

Drehbuch: Werner Herzog, nach dem Bühnenfragment von Georg Büchner
Musik: Fiedelquartett Telc, Antonio Vivaldi, Benedetto Marcello
Director of Photography: Jörg Schmidt-Reitwein
Montage: Beate Mainka-Jellinghaus
Produktionsdesign: Henning von Gierke

Darsteller: Klaus Kinski (Friedrich Johann Franz Woyzeck), Eva Mattes (Marie), Wolfgang Reichmann (Hauptmann), Willy Semmelrogge (Arzt), Josef Bierbichler (Tamburmajor), Paul Burian (Andres, Soldat), Volker Prechtel (Handwerksbursche), Dieter Augustin (Marktschreier), Irm Hermann (Margret), Wolfgang Bächler (Jude), Herbert Fux (Unteroffizier)

Der Wahnsinn in der Normalität

„Wir arme Leut – Sehn Sie, Herr Hauptmann:
Geld, Geld! Wer kein Geld hat - Da setz
einmal eines seinesgleichen auf die Moral
in der Welt! Man hat auch sein Fleisch und Blut.
Unsereins ist doch einmal unselig in der und
der andern Welt. Ich glaub', wenn wir in
Himmel kämen, so müssten wir donnern helfen.”

Georg Büchners („Dantons Tod”, „Lenz”, „Leonce und Lena”) fragmentarisch gebliebener „Woyzeck” gehört wohl zu den auf Theaterbühnen meist gespielten Stücken. Noch heute streiten sich Literaturwissenschaftler um die Reihenfolge der einzelnen Szenen des Stücks, v.a. weil die von Büchner geschriebenen Seiten nicht paginiert waren. Das Stück erlebte, soweit ich das überblicken kann, allein sieben Fernsehfassungen und wurde fünf Mal für das Kino inszeniert, zum ersten Mal 1947 von Georg C. Klaren in einer DEFA-Produktion mit Kurt Meisel in der Titelrolle.

Herzogs Inszenierung hält sich weitgehend an den Büchner’schen Text, und im Unterschied zu anderen seiner Filme steht in „Woyzeck” deutlich der Text im Vordergrund.

„Ja, Herr Hauptmann, die Tugend – ich hab's
noch nit so aus. Sehn Sie: wir gemeine Leut,
das hat keine Tugend, es kommt nur so die
Natur; aber wenn ich ein Herr wär und hätt'
ein' Hut und eine Uhr und eine Anglaise
und könnt' vornehm rede, ich wollt' schon
tugendhaft sein. Es muss was Schönes sein
um die Tugend, Herr Hauptmann. Aber ich
bin ein armer Kerl!”

Woyzeck duldet. Mit Schmerz verzerrtem Gesicht schaut er uns an. Die Verzweiflung steht in diesem Gesicht geschrieben, eine Verzweiflung, die kaum nach Hilfe schreit, sondern in der sich etwas spiegelt, was weit über die Person des Franz Woyzeck (Klaus Kinski) hinausgeht. Er wird getreten, zum Laufen gezwungen, muss Liegestütze absolvieren. Man sieht nur den Stiefel des Peinigers, der auf Woyzecks Rücken knallt. Woyzeck sind auch wir, und Woyzeck ist ganz sicher auch Kinski, und Woyzeck ist eben Woyzeck. Und Woyzeck ist Büchner.

Mit der ihm gegebenen Arroganz seiner sozialen Stellung, in Selbstmitleid und fast schon Selbstliebe ertrinkend lässt Woyzecks Vorgesetzter, der namenlose Hauptmann (Wolfgang Reichmann in einer Glanzrolle des Films) den armen Soldaten spüren, dass er ihn mehr für ein Tier als einen Menschen hält. Er sei ein guter Kerl, aber ohne Moral. Woyzeck verdient sich ein paar Groschen dazu, wenn er den Hauptmann mehrere Male die Woche rasiert. Wir schreiben Biedermeier. Aber bieder geht es in der kleinen Garnisonsstadt irgendwann im frühen 19. Jahrhundert nicht zu.

Der örtliche Arzt (Willy Semmelrogge) nutzt Woyzeck ebenso gnadenlos aus für seine dubiosen Experimente. Wochenlang muss Woyzeck Erbsen essen, nur Erbsen, dann seinen Urin bei dem Arzt abgeben. Auch dies tut Woyzeck nur, um noch ein bisschen Geld zu bekommen.

Über seine Ängste, Phantasien, Gedanken zu reden, fällt Woyzeck nicht schwer. Nur hört ihm keiner zu. Der Soldat Andres (Paul Burian) ist nett zu ihm, versteht ihn aber nicht. Der Arzt tut Woyzecks Äußerungen ab als Ausdruck einer krankhaften fixen Idee (er spricht von Aberratio mentalis partialis) und gibt ihm einen Groschen mehr die Woche, um diesen Wahnsinnigen Studenten vorzuführen. Der Hauptmann hält Woyzeck für einen Mann ohne Moral, denn Woyzeck hat Marie (Eva Mattes), der Magd, ein uneheliches Kind gemacht.

Marie scheint Woyzecks einzige Hoffnung, einziger Halt in diesem erbärmlichen Leben zwischen Erniedrigung und Armut, Kontaktlosigkeit und sozialer Arroganz. Doch er kann Marie nicht heiraten, weil ihm das Geld dazu fehlt. Auch Marie versteht ihn nicht, fühlt sich verarmt in der Beziehung zu Woyzeck und gibt nach mehrfachem Drängen den Nachstellungen eines hünenhaften, starken Tamburmajors (Josef Bierbichler) nach, schläft mit ihm und bekommt von ihm zwei Ohrringe geschenkt.

Aus einer Vermutung wird für Woyzeck Verdacht, aus dem Verdacht Gewissheit, als der Hauptmann Andeutungen über die Beziehung zwischen Major und Marie macht. Woyzeck kauft sich bei einem jüdischen Händler ein Messer. Am See vor dem Ort tötet er Marie mit sieben Messerstichen ...

„Ich geh'. Es ist viel möglich. Der Mensch! Es ist
viel möglich. - Wir haben schön Wetter, hh. Sehn
Sie, so ein schöner, fester, grauer Himmel; man
könnte Lust bekommen, ein' Kloben hineinzuschlagen
und sich daran zu hängen, nur wegen des
Gedankenstriches zwischen Ja und wieder Ja – und
Nein. hh, Ja und Nein? Ist das Nein am Ja oder
das Ja am Nein schuld? Ich will darüber nachdenken.”

Der Text Büchners (1), der übrigens auf einer wahren Begebenheit beruht (2), gehört wohl zu den schönsten Erlebnissen an Literatur, die man haben kann. Herzog blieb bei dem Text und Kinski war die perfekte Besetzung für die Hauptrolle – sowohl was die Präsentation des Textes betrifft, als auch die Darstellung des Woyzecks. Kaum waren die anstrengenden Dreharbeiten zu „Nosferatu” abgeschlossen, schlüpfte Kinski in diese Rolle, und seine Erschöpfung war in diesem Fall kein Handicap, sondern beste Voraussetzung für das Gelingen des Films, der in der tschechischen Stadt Telc gedreht wurde (die Handlung spielt in Darmstadt). Herzog, der über ein Jahr lang warten musste, bis er eine Drehgenehmigung von den tschechoslowakischen Behörden für „Nosferatu” bekam, behauptete diesen gegenüber, wie er auf der DVD berichtet, er drehe in Telc noch immer für „Nosferatu”, um sich ein weiteres monatelanges Warten auf eine erneute Drehgenehmigung zu ersparen. Fünf Tage lagen zwischen den Abschlussarbeiten zu „Nosferatu” und dem Drehbeginn von „Woyzeck”. Das merkt man dem Film paradoxerweise wenn überhaupt nur in einem positiven Sinne an. Mit Eva Mattes bekam Herzog eine Schauspielerin für die Rolle der Marie, die kaum jemand anders besser hätte spielen können.

Herzogs „Woyzeck” spiegelt die Figuren Büchners in einer durchaus als einzigartig zu bezeichnenden Weise wider. Obwohl das Visuelle, das in fast allen Filmen des Regisseurs so sehr und so phantastisch im Vordergrund steht, hier hinter dem Büchner’schen Text nur verhalten eingesetzt wird und obwohl die Kamera Jörg Schmidt-Reitweins vor allem in statischen Aufnahmen des Geschehens verharrt (so, als ob es sich um die filmische Adaption eines Bühnenstücks handle), gereicht dies nicht zum Nachteil der Inszenierung, im Gegenteil. Gerade die Wahl von Telc und Umgebung lässt die visuelle Kraft von Herzogs Inszenierungen immer wieder trotzdem durchscheinen, etwa in den Großaufnahmen vom Ortszentrum mit den alten Häusern, in einer Szene, in der Woyzeck und Andres am Rand des Sees mit Blick auf den Ort schnitzen oder in einer anderen Sequenz, in der Woyzeck durch ein riesiges Mohnfeld läuft. Wie Herzog weiter berichtet, kam er bei dem in nur 17 Tagen gedrehten Film mit gerade mal 35 Schnitten sowie einem Gegenschnitt aus. Das alles führt zu einer unglaublichen dramaturgischen und thematischen Dichte der Erzählung, die fesselt und kontinuierlich in Spannung versetzt.

„Ein guter Mord, ein ächter Mord,
ein schöner Mord; so schön,
als man ihn nur verlangen tun kann.
Wir haben schon lange so keinen gehabt.”

Bei allen Interpretationsversuchen und -möglichkeiten bezüglich des Stoffs scheint mir, dass Herzogs Inszenierung den Intentionen Büchners sehr nahe gekommen ist. Kinski, der diesen Woyzeck in einem von ihm gewohnten „Kraftakt” und mit aller Leidenschaft und Besessenheit im positiven Sinne des Wortes verkörpert, spielt einen in ständiger, erduldeter Verzweiflung und stets dem seelischen Abgrund nahen Mann, der begriffen hat, dass er einer Schicht angehört, in der ihm jegliche Chance auf Flucht, Fortkommen, Aufstieg, Befreiung usw. verwehrt wird. Der Arzt, der Hauptmann wollen ihn nicht verstehen, Marie und Andres können ihn nicht verstehen, der Tamburmajor ist ihm körperlich überlegen. Woyzeck ist ein Objekt anderer – in jeder Hinsicht. Die Flucht Maries aus dem unglücklichen Alltag mit ihm und aus der Verständnislosigkeit gegenüber ihm treibt Woyzeck zur Tat. Herzog zeigt diesen Mord am See in Zeitlupe; er zeigt, wie Marie langsam zu Boden sinkt, aus dem Bild verschwindet, und Woyzeck mit seinem Angst verzerrten Gesicht, in dem sich sämtliche menschlichen Abgründe zu konzentrieren scheinen. Doch Kinski spielt diesen Woyzeck (und Büchner schrieb dieses Stück) nicht mit der Intention der Entschuldigung oder gar Rechtfertigung. Vor dem zeitgeschichtlichen Hintergrund steht Woyzeck vor allem für die gequälte menschliche Kreatur der unteren Schichten, die sich – trotz der Hinnahme aller möglichen Qualen – in einer Verzweiflungstat Befreiung verschaffen will. Der Mord an Marie ist zugleich der Tod Woyzecks. Noch einmal kehrt er in den Ort, in die Wirtschaft zurück, tanzt kurz und wild und kehrt zurück an den See, um das Messer zu finden und in den See zu werfen. Er geht in den See, holt das Messer, wirft es weiter hinein.

Büchner lässt offen, ob Woyzeck sich hier selbst tötet, indem er sich ertränkt, oder ob er später festgenommen wird. Das spielt auch keine Rolle. Der Tod ist für ihn der einzige Retter in der Not, die Hoffnung auf die andere Welt, an der Woyzeck jedoch auch zweifelt. In einer Anfangsszene sagt er zum Hauptmann: „Unsereins ist doch einmal unselig in der und der andern Welt. Ich glaub', wenn wir in Himmel kämen, so müßten wir donnern helfen.” Alle halten Woyzeck für wahnsinnig. Aber genau dieser Interpretation spielen Kinski und Herzog entgegen. Der Wahn einer Welt der fixen, schier unüberbrückbaren Hierarchien schafft den Woyzeck und die Wahnsinnigen, die sich dort tummeln. Büchner zeigt einen Arzt, der in wahnwitzigen Experimenten als krasses Beispiel für die dunklen Seiten der Aufklärung gelten kann; einen Hauptmann, der ausschließlich der Erhaltung der Hierarchien dient und dabei selbst verrückt erscheint; einen Soldaten, Andres, der sich seinem Schicksal vollauf unterworfen hat, als ob es die Natur ihm befohlen habe.

Woyzeck erkennt in seinen „wahnsinnigen” Momenten die für ihn unauflösliche Diskrepanz zwischen der eigenen Natur und einer bändigenden Kultur, die ihn einsperrt und demütigt. Herzogs „Woyzeck” und Kinskis Darstellung weisen deutlich in diese Richtung.

(1) Der Text findet sich z.B. unter:
http://gutenberg.spiegel.de/buechner/woyzeck/woyz2001.htm
(2) Zu dem 1824 in Leipzig hingerichteten Woyzeck vgl.:
http://www.zum.de/Faecher/D/BW/gym/Buechner/woyzeck.htm

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