Ran
(Ran)
Japan 1985, 160 Minuten
Regie: Akira Kurosawa

Drehbuch: Akira Kurosawa, Hideo Oguni, Masato Ide, nach William Shakespeares „König Lear“
Musik: Tôru Takemitsu
Director of Photography: Asakazu Nakai, Takao Saitô, Masaharu Ueda
Montage: Akira Kurosawa
Produktionsdesign: Shinobu Muraki, Yoshirô Muraki

Darsteller: Tatsuya Nakadai (Fürst Hidetora Ichimonji), Akira Terao (Taro Ichimonji), Jinpachi Nezu (Jiro Ichimonji), Daisuke Ryu (Saburo Ichimonji), Mieko Harada (Kaede, Frau Taros), Yoshiko Miyazaki (Sué, Frau Jiros), Hisashi Igawa (Kurogane, Vertrauter Jiros), Peter (Kyoami, der Narr), Masayuki Yui (Tango), Kazuo Kato (Ikoma, Gefolgsmann Hidetoras), Norio Matsui (Ogura, Gefolgsmann Taros), Mansai Nomura (Tsurumaru, Bruder Sués), Takeshi Katô (Fürst Ayabe), Hitoshi Ueki (Fürst Fujimaki)

Die Götter weinen ...

Eine gewaltige, prächtige Landschaft tut sich vor unseren Augen auf. Das satte Grün der Wiesen, die sich über ein teils leicht hügeliges, oft aber steiles, bergiges Gelände in die Unendlichkeit auszuweiten scheinen, öffnet den Blick auf eine Landschaft, die etwas Überwältigendes hat. Ein alter Eber läuft um sein Leben. Männer auf Pferden in blauen, grünen, roten und gelben Rüstungen jagen den Eber und erlegen ihn. Diese Farbenpracht vermittelt etwas von der Größe der Natur, aber auch von der Größe der Männer, die sich in ihr bewegen. Samurai. In einem nach oben offenen Zelt versammeln sie sich nach der Jagd, essen, trinken und reden. Der Eber ist zu alt, um ihn zu verspeisen. Man hat ihn gejagt um der Jagd willen.

Am Ende des Films ist dies alles verschwunden. Kaum noch etwas erinnert an diese Anfangssequenz. Die Dunkelheit beherrscht den Raum. Finsternis hat die Erde bedeckt. Es ist dieser starke Kontrast, der die Geschichte, basierend auf Shakespeares „King Lear”, beherrscht. Es ist diese Zwiespältigkeit von Bewunderung und Verachtung, von Licht und Schatten, von Größe und Niedertracht, von Eingebundenheit in die Natur und Brutalität der menschlichen Natur, die sich wie ein roter Faden in aller epischen Breite durch den Film spinnt.

Akira Kurosawas Alterswerk aber glänzt wie seine früheren Filme, oft sogar noch mehr. Die Geschichte von Betrug und Selbsttäuschung, Verrat und Treue, Macht, Intrige, Verschlagenheit, Liebe und Hass spielt im 16. Jahrhundert, in einem Zeitalter, das mit dem Begriff frühe Neuzeit nur unzureichend bezeichnet werden kann – eine Zeit des Übergangs, des Umbruchs. Die Feuerwaffen sind bereits erfunden und im Einsatz. Sie töten besser als Pfeil und Bogen und das Schwert. Das alte System der sich bekämpfenden Fürsten und ihrer Samurai scheint sich ein letztes Mal aufzubäumen, während am Horizont – noch nicht wirklich sichtbar – eine neue Zeit sich anzukündigen scheint, eine Zeit von der die Akteure noch nichts wissen, nicht einmal etwas ahnen.

Hidetora (Tatsuya Nakadai), der alt gewordene Fürst, sitzt mit seinen ehemaligen Widersachern, den Fürsten Ayabe (Jun Tazaki) und Fujimaki (Hitoshi Ueki), mit denen er Frieden geschlossen hat, und seinen drei Söhnen nach der Jagd zusammen. Er ist müde geworden und hat eine Entscheidung getroffen. Sein ältester Sohn Taro (Akira Terao) soll sein Nachfolger werden, der Herr über die erste Burg, und seine zwei anderen Söhne, Jiro (Jinpachi Nezu) und Saburo (Daisuke Ryu), sollen als Herren der zweiten bzw. dritten Burg mit Taro die Einheit des Geschlechts der Ichimonji wahren. Während Taro und Jiro Hidetora ihre Ergebenheit erweisen, ihm danken und sogar Hidetora bitten, doch in seinem Amt zu bleiben, widerspricht der jüngste Sohn Saburo seinem Vater. Er nennt ihn senil und schwachsinnig. In einer Welt, in der es keine Menschlichkeit und keine wirkliche Treue mehr gebe, wolle Hidetora seinen heuchlerischen Brüdern die Macht übergeben? Das sei mehr als unklug. Hidetora ist erbost über dieses Verhalten Saburos und verbannt ihn, zusammen mit dem Samurai Tango (Masayuki Yui), der Saburo zustimmt.

Nur Fürst Fujimaki ist beeindruckt von der Wahrheitsliebe und Offenheit Saburos und bittet ihn auf seine Burg und darum, seine Tochter zur Frau zu nehmen.

Taro kehrt zurück zu seiner Burg. Seine Frau Kaede (Mieko Harada) stachelt ihn auf, die ganze Macht an sich zu reißen. Sie will sich rächen – rächen dafür, dass Hidetora einst ihre ganze Familie umbringen ließ. Sie will, dass Taro seinen Vater gänzlich entmachtet und auch seinen Bruder Jiro tötet. Taro zwingt seinen Vater, ein Dokument zu unterzeichnen, in dem Hidetora auf seine letzten Befugnisse verzichtet. Enttäuscht und verbittert verlässt Hidetora Taros Burg und hofft, bei seinem Sohn Jiro angemessen aufgenommen zu werden.

Doch auch Jiro spekuliert auf die ganze Macht. Er verweigert Hidetoras Leibwache den Zutritt zur zweiten Burg und erwidert seinem Vater, er müsse den Befehlen Taros als dem neuen Oberhaupt der Familie gehorchen. Hidetora verlässt auch Jiros Burg und zieht – verführt von dem Verräter Ikoma (Kazuo Kato) – in die dritte Burg, die jedoch Taro und Jiro erobern. Während der blutigen Schlacht, in der Hidetoras treue Leibgarde und alle seine Leute ermordet werden, lässt Jiro Taro hinterrücks ermorden. Hidetora allein überlebt. Jiro lässt ihn – trotz der Warnungen seiner Samurai – gehen. Und fortan irrt Hidetora – nur begleitet von dem treuen Tango und dem Narren Kyoami (Peter) – verbittert und der geistigen Umnachtung nahe, durch das Land, das ihm einst gehörte.

Finsternis hat die Erde bedeckt. Und es ist Kaede, die nun Jiro dazu bewegen will, alle zu töten, die ihrer Rache im Weg stehen, einschließlich der Frau Jiros, Sué (Yoshiko Miyazaki), und deren Bruder, dem blinden Tsurumaru (Mansai Nomura). Nur Tango weiß, was zu tun ist. Er will Hidetora dazu bringen, sich mit seinem dritten Sohn Saburo zu versöhnen. Doch Hidetora, der inzwischen weiß, wie schändlich er Saburo behandelt hat, wie falsch er seine beiden anderen Söhne eingeschätzt hat, will vor Scham seinem Sohn nicht begegnen ...

Obwohl „Ran” – das japanische Wort für Chaos – im 16. Jahrhundert spielt und auf Shakespeares „King Lear” fußt, artikuliert Kurosawa in seiner Interpretation der Geschichte – nicht das erste Mal – eine bittere, fast apokalyptische Sicht auf unsere Zivilisation. Man kann „Ran” aus ganz unterschiedlichen Blickwinkeln sehen, etwa als Vater-Sohn-Geschichte, fast in einem biblischen, alttestamentarischen Sinn. Das ist „Ran” sicherlich auch. Aber diese Vater-Sohn-Geschichte ist eingebettet in einen größeren, gesellschaftlichen, alle Aspekte der Zivilisation umspannenden Rahmen.

Der alt gewordene, 70jährige Hidetora hat in der Zeit, bevor die Geschichte des Films beginnt, sein Leben damit verbracht, dem Geschlecht der Ichimonji die unumschränkte Macht zu garantieren. Etliche Fürsten hat er besiegt, sie und ihre Leute getötet, u.a. auch die Familien Kaedes und Sués, den beiden Frauen, die er mit seinen beiden ältesten Söhnen vermählt hat. Sués Bruder Tsurumaru ließ er am Leben, aber nicht, ohne ihm die Augen ausstechen zu lassen. Seitdem lebt Tsurumaru einsam in einer verlassenen Hütte. Im Gegensatz zu seiner Schwester Sué, die als überzeugte Buddhistin keinerlei Rachegelüste hegt, kämpft Tsurumaru innerlich mit seinem Hass, ist wegen seiner Blindheit aber unfähig, selbst Rache nehmen zu können.

Nur der Drittgeborene Hidetoras, Saburo, und der Samurai Tango haben erkannt, dass diese Welt, in der es nur um Macht und Einfluss geht, in der keine Menschlichkeit herrscht und in der Treue nur noch eine leere Worthülse ist, diese Welt, die Saburos Vater mit geschaffen hat, dem Untergang verfallen ist. Sué hingegen hat sich in die innere Welt der Kontemplation zurückgezogen. Und es ist kein Wunder, dass Hidetora nicht versteht, nicht verstehen kann, dass Sué keinen Hass gegen ihn empfindet. Hidetora, so kann man auch sagen, versteht die Welt nicht mehr, die er selbst reproduziert hat. Wie ein einsam Umherirrender sucht er (vergeblich) nach Wahrheit und Wahrhaftigkeit.

Saburo und Tango haben genau erkannt, dass Jiro und Taro die Söhne ihres Vaters sind. Das, was sie von ihrem Vater gelernt haben, das, was einzig zu zählen scheint, ist der Kampf um die absolute Macht. Saburo hingegen hat von Hidetora gelernt, dass Schluss sein muss mit diesem Leben. Hidetora hatte sich mit den anderen Fürsten Ayabe und Fujimaki versöhnt. Doch diese Versöhnung war eher Ausdruck seiner Altersmüdigkeit, denn der Überzeugung, eine andere Welt aufzubauen. Saburo hingegen weiß, dass diese Welt der Machtkämpfe nur mit ihrer eigenen Vernichtung enden kann.

Kurosawa zeigt aber auch, dass Verrat, Intrige und Rache unabdingbare Folge dieser Welt des absoluten Machtanspruchs sind. Zuerst verrät Ikoma, einer der Samurai Hidetoras seinen Herrn, Kaede kennt nur noch einen Sinn ihres Lebens: Rache, und Jiro und Taro kennen nur die Intrige als Mittel, ihre eigene Macht zu installieren. Beide Söhne – und das erkennt Hidetora lange nicht – sind Kinder ihres Vaters. Ganz ähnlich wie in Coppolas Paten-Trilogie in Bezug auf das soziale System der Cosa Nostra stellt Kurosawa das soziale System von Fürsten, Samurai und Gefolgsleuten und deren Ehrbegriffe nicht nur in Frage, sondern entblößt es als Lüge und Betrug. Die Söhne verraten den Vater, die Getreuen verraten ihren Fürsten, die Opfer – selbst einmal Täter wie Kaede – üben sich in grenzenlosem Hass und in ebenso grenzenloser Rachsucht – aber eben nicht mit dem Ziel der Abschaffung dieses grausamen Systems, sondern mit dem der Reproduktion dieses Machtgefüges mit sich selbst an der Spitze.

Einer der wenigen Helfershelfer in diesem System, der eine Ahnung davon hat, wie dieses System funktioniert und welche Folgen es zeitigt, ist Kurogane (Hisashi Igawa), ein Samurai Jiros, der erkennt, welchen furchtbaren Einfluss Kaede auf Jiro hat, die versucht, nach der Ermordung Taros ihre Rache an der Familie Ichimonji mit Hilfe von Jiro fortzusetzen. Aber Kurogane, der Mühe hat, seine verinnerlichten Ehrbegriffe aufrechtzuerhalten, schert aus dem System nicht aus; er kann dies nicht, weil er – im Gegensatz zu Tango und Saburo – nicht über den Tellerrand dieses Systems hinausschauen kann.

Kurosawa arbeitet zudem mit dem Mittel der Ironie, einer tragischen Ironie, wenn man so will, in Gestalt des Narren Kyoami, der die Machenschaften und das Verhalten der Fürsten und Samurai mit Spott überzieht. Aber im Verlauf der Geschichte muss auch der Narr begreifen, dass Spott und Ironie angesichts dessen, was sich ereignet, der Tragik des Geschehenen nicht mehr beikommen kann. Der Narr, neben Saburo und Tango der einzige, der Hidetora treu ergeben ist, ist verzweifelt angesichts des Schreckens, der das Land überzieht. Trotzdem wird auch bezüglich dieser drei Personen deutlich, was Kurosawa unter wirklicher Treue versteht. Es ist nicht jene scheinheilige Vasallentreue des Systems, nein. Es ist die Offenheit und Wahrheitsliebe Saburos gegenüber seinem Vater; es ist die ehrliche, aber kritische Ergebenheit Tangos; und es ist die ironische, aber von tiefer Zuneigung geprägte Treue des Narren Kyoami. Diese Art von Treue ist geprägt von Vertrauen und Zuneigung – auch zu dem alten Hidetora und trotz seiner furchtbaren Vergangenheit.

„Ran” ist von einer Endzeitstimmung geprägt. Die Versöhnung zwischen Hidetora und Saburo kann beider Tod nicht mehr verhindern. Das Geschlecht der Ichimonji stirbt aus. Der Tod, die Verwüstung, die Vernichtung stehen am Ende von „Ran”. So wie jedes „Tausendjährige Reich” dem Untergang geweiht ist und immer war, so wahr ist es auch, dass es sich auf andere Weise immer wieder reproduziert – und Berge von Leichen hinterlässt. Diese pessimistische Sicht des Regisseurs wird im Film überzeugend dargestellt.

Als zum Schluss Kyoami die Götter beschimpft, entgegnet ihm Tango: Die Götter weinen über die Dummheit, die Mordgier und die Machtbesessenheit der Menschen. Die Religion hat – einmal mehr bei Kurosawa – ihren Einfluss längst verloren. Das düstere Bild, das er zum Schluss präsentiert, zeigt den blinden, einsamen Tsurumaru. Alle die sind tot, die er liebte, seine Schwester Sué auch. Alle die sind tot, die dafür verantwortlich sind. Fast alle die sind tot, die gegen die Unmenschlichkeit etwas tun wollten. Am Leben ist ein Blinder, der einsam auf einem Felsvorsprung steht, ein Narr, der seine Fähigkeit zur Ironie verloren hat, und ein Samurai, der des Kämpfens überdrüssig geworden ist.

Die Poetik, die Bildersprache und die Kraft seiner Figuren machen „Ran“ zu einem auch heute noch sehenswerten, erschreckenden, berührenden Film. Erwähnt werden muss noch die exzellente Musik von Tôru Takemitsu, die dem Genuss des Films das berühmte i-Tüpfelchen „aufsetzt“.

© Bilder: Universum Pictures und Studio Canal
Screenshots von der DVD